Der Fall Collini

“Der Fall Collini” ist vielleicht der beste deutsche Film der letzten Zeit – ohne Zweifel eine oscarverdächtige Produktion. In meinem Freundes- und Bekanntenkreis hat der Film aber für eine Kontroverse gesorgt. Nicht wegen seiner kinematografischen Qualität, sondern wegen des seiner Handlung zugrundeliegenden Problems. Nämlich die Frage, ob die Massenhinrichtungen von Zivilisten während des Zweiten Weltkriegs  durch deutsche Soldaten rechtskonform oder rechtswidrig waren. Maßstab ist das damals geltende Kriegsvölkerrecht. Mit anderen Worten, ob die Tötungen italienischer Zivilisten als Vergeltungsmaßnahmen Handlungen waren, die nach den Kriterien des damaligen Völkerrechts rechtmäßig oder unrechtmäßig war.

Im Fall Collini exekutierte eine Einheit der Waffen-SS ( d.h. eine militärische Einheit der nationalsozialistischen Parteitruppe SS, also paramilitärische Kräfte der NSDAP) 1944 zehn unbeteiligten italienische Zivilisten für jeden getöteten deutschen „Soldaten“ nach der Explosion einer Partisanen-Bombe in einem von Deutschen besuchten Vergnügungslokal. Die getöteten Männer waren Zivilisten, die in der Kleinstadt Montecatini durch den Zufall auserkoren wurden.

Die einzige Einschränkung im Film: Kinder dürfen nicht exekutiert werden. Der verantwortliche SS-Offizier fragt eines der Dorfkinder, wer sein Vater sei, und ordnet dessen Hinrichtung an. Er zwingt dabei das Kind, der Tötung seines Vaters beizuwohnen. Viele Jahre später treffen sich in Berlin beide wieder. Der Film basiert auf einem Buch des deutschen Schriftstellers und Strafverteidigers Ferdinand von Schirach, Enkel von Baldur von Schirach, dem NS-Reichsjugendführer.

Lange Zeit wurde behauptet, die Hinrichtung von Zivilisten in den besetzten Staaten seien berechtigte Strafmaßnahmen gegen Handlungen der jeweiligen Partisanen gegen Soldaten, deutsche Polizisten oder SS-Angehörige. Also “Repressalien”, die nach dem damaligem Recht eben rechtskonform gewesen seien und damit straflos. Folglich können die Deutschen, die die Tötung von unbeteiligten Zivilpersonen als Sühnemaßnahme angeordnet oder ausgeführt hatten, nicht bestraft werden, weil sie im Einklang mit dem damaligen Völkerrecht gehandelt hätten.

Zu lange wurde wiederholt, was damals Recht war, dürften wir nicht mit unserem heutigen Rechtsverständnis beurteilen. Frei nach dem exkulpierenden Motto “Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein!”[1]. Die Frage ist aber, ob solche Vergeltungsmaßnahmen damals Recht waren.

Auch ohne profunde Kenntnisse des Kriegsvölkerrechts halte ich die Hinrichtung von Zivilpersonen in “Feindesland” für eine Handlung gegen die Menschlichkeit, gegen die Gerechtigkeit und gegen die Vernunft. Nach dem gesundem Menschenverstand halte ich es für eine Binsenweisheit, dass die Zivilbevölkerung unter keinen Umständen Vergeltungs- oder Sühnemaßnahmen als “Rache” für die in Partisanenhand gefallenen Staatsangehörigen erleiden darf.

In der Bundesrepublik wurde die Erschießung von Zivilisten für eine völkerrechtlich zulässige Vergeltungsmaßnahme gehalten, als “Repressalie” getarnt. Es wurde auch mit der Grausamkeit des Krieges argumentiert. Nach dem Motto, man kann im Frieden nicht über die Untaten des Krieges richten. Man könnte so einfach das ganze heute als humanitäres Völkerrecht bezeichnete Kriegsvölkerrecht (“das Humanitäre Völkerrecht normiert Prinzipien und Regeln für die Beteiligten bewaffneter Konflikte”[2]) einfach resigniert wegschmeißen.

Die “Repressalien” sollen sich jedoch am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientieren. Infolgedessen soll die Formel “Zehn Italiener für einen Deutschen” die Verhältnismäßigkeit gewahrt haben. Die Erschießungen dürften also “nicht exzessiv” sein. Die Hinrichtung von zehn Italienern für jeden getöteten Deutschen sei verhältnismäßig und infolgedessen mit Kriegsvölkerrecht in Einklang. Alles hängt somit von einer einfachen mathematischen Formel ab, wurde jahrzehntelang versichert[3].

Im besetzten Jugoslawien betrug die Repressalienquote nicht zehn zu eins, sondern 100 oder 50 zu eins (nach dem sog. Sühnebefehl[4]). Dort richteten sich die Strafmaßnahmen vor allem gegen die jüdische Bevölkerung, so dass die angeblichen Repressalien mit dem Holocaust ineinanderfließen.

Zwar gab es in Süddeutschland Hinrichtungen durch alliierte Truppen; diese bleiben aber als große Ausnahme. “Es handelte sich niemals um Massenmorde mit hunderten, manchmal tausenden Opfern, wie sie von der Wehrmacht begangen wurden”[5]. Im Gegensatz dazu waren die Massaker an  der Zivilbevölkerung durch deutsche Soldaten echte Massenmorde und gingen schnell in einen Völkermord über.[6] Die westlichen Verbündeten haben solche Massenverbrechen nicht begangen, denn sie waren nicht von einer rassistischen und unmenschlichen Ideologie wie der nationalsozialistischen geleitet.

Ein Gerücht befindet sich seit Jahrzehnten in Umlauf: Die italienische Justiz hätte die angeblich mathematische Regel “1:10” anerkannt. Die Repressalienquote 1:10 sei zulässig gewesen. Als ob eine nummerische Grenze der Limes zwischen Recht und Unrecht sei. Danach dürften lediglich zehn Italiener für jeden Deutschen hingerichtet werden, aber nicht mehr. Es wurde sogar behauptet, dass die Verurteilungen von Deutschen in Italien erst stattgefunden hätten, wenn die normalen “1:10” überschritten wurden. Solange die Quote eingehalten wurde, war also alles okay. In Wahrheit, erfolgten die Verurteilungen wegen Mordes an Zivilisten, nicht weil ein oder zwei italienische Zivilisten “über die Rechnung” getötet worden waren, sondern wegen der Erschießung als solcher.[7]

Seit dem Mittelalter gibt es völkerrechtliche Repressalien. Es handelt sich um Maßnahmen eher wirtschaftlicher Natur, die das Eigentum des feindlichen Staates treffen. “Repressalien sind selbst völkerrechtswidrige Maßnahmen, die nur dann zulässig sind, wenn keine andere Möglichkeit mehr besteht, dem Unrecht eines anderen entgegenzutreten”.[8] Beispielsweise gilt die französische Besetzung des rohstoffreichen deutschen Ruhrgebiets im Jahr 1923 als völkerrechtlich anerkannte Repressalie. Die Hinrichtung von Zivilisten entspricht nicht einmal ansatzweise dieser Definition.

Repressalien finden zwischen Staaten statt und “dienen der staatlichen Selbsthilfe zur Durchsetzung des Völkerrechts, wo andere Instrumente versagt haben oder nicht greifen”[9]. Mit Betonung auf “zur Durchsetzung des Völkerrechts”, auf keinem Fall als unrechtmäßige Rache oder als sog. Vergeltungsmaßnahme oder Sühnebefehl.

Wiktionary definiert die Repressalie als eine “völkerrechtswidrige Maßnahme, die von einem Staat als Reaktion auf den völkerrechtswidrigen Akt eines anderen Staates unternommen wird”.[10] Somit von Staat zu Staat. Erschießungen sind hingegen Maßnahmen gegen Einzelpersonen, Angehörige der Zivilbevölkerung. Meiner Meinung nach war die Erschießung der italienischen Zivilisten ein Racheakt, eine brutale Vergeltungsmaßnahme. Klar und deutlich völkerrechtswidrig.

Hinrichtungen wie diese fanden normalerweise nicht ohne Grund mitten in der Stadt statt, um die Zivilbevölkerung noch mehr zu einschüchtern und zu verängstigen. Alle sollen das sehen, auch die Kleinkinder, wie im Film dargestellt. Das macht die Sache nicht besser, sondern noch mehr menschenverachtend.

Das Oberkommando der Wehrmacht und besonders Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel “forderten eine Kampfweise, die eindeutig gegen das seinerzeit geltende Kriegsvölkerrecht, vor allem gegen die beiden Haager Landkriegsordnungen von 1899 und 1907 verstieß”.[11] Und das nicht nur in dem Ostfront.

Die Haager Landkriegsordnung in ihrer Fassung von 1907[12] enthält einen ganzen Abschnitt über die Regeln “Militärischer Gewalt auf besetztem feindlichen Gebiete”. Das Übereinkommen von 1907 war gültiges Recht während des Zweiten Weltkrieges. Aber die Nationalsozialisten meinten, wie es schon in dem Kommissarbefehl der Wehrmacht steht, “In diesem Kampfe ist Schonung und völkerrechtliche Rücksichtnahme diesen Elementen gegenüber falsch”[13].

Hitlers Barbarossa-Erlaß[14], der er selbst unterzeichnet und an höchste Wehrmachtstellen verteilt wurde, versucht, diese Haltung zu rechtfertigen. Der sog. Führer hatte im Mai 1941 angeordnet: “Für Handlungen, die Angehörige der Wehrmacht und des Gefolges gegen feindliche Zivilpersonen begehen, besteht kein Verfolgungszwang, auch dann nicht, wenn die Tat zugleich ein militärisches Verbrechen oder Vergehen ist.”[15] Ist dieser Befehl das ultimative Argument, um zu versichern, dass die Hinrichtungen nicht rechtswidrig waren?

“Schon seit längerer Zeit bedienen sich unsere Gegner in ihrer Kriegführung Methoden, die außerhalb der internationalen Abmachungen von Genf”.[16] Dies ist das verbrauchte Argument “tu quoque”. So sind Genf, Den Haag und wie alle Abkommen damals hießen so zu sagen de facto außer Kraft gesetzt worden. Weil die Nazis behaupteten, die anderen tun das auch… Das alte Argument tu quoque, oft nur eine Ausrede. “Der sogenannte Barbarossa-Erlass wurde im Dezember 1941 präzisiert. Nun galt es, auch gegen ‘Banden’ im Feindesland ‘mit den allerbrutalsten Mitteln’ vorzugehen, ‘ohne Einschränkung auch gegen Frauen und Kinder’”[17]. Der Erlass hat auch “in Italien gegolten”[18].

Art. 43 der Haager Landkriegsordnung ordnet an: “Nachdem die gesetzmäßige Gewalt tatsächlich in die Hände des Besetzenden übergegangen ist, hat dieser alle von ihm abhängenden Vorkehrungen zu treffen, um nach Möglichkeit die öffentliche Ordnung und das öffentliche Leben wiederherzustellen und aufrechtzuerhalten, und zwar, soweit kein zwingendes Hindernis besteht, unter Beachtung der Landesgesetze”[19]. Ich frage mich, ob das italienische Landesgesetz die mathematische Repressalienquote 10 : 1 vorschreibt…

Ja, es ist wahr: Der Schutz der Zivilisten war in rudimentärer Form in dem Vertrag von Den Haag statuiert, sowohl in der Version vom 1899 als auch in der von 1907. Den Mächten der damaligen Zeit schien es nicht notwendig, ausdrücklich den Schutz von Zivilisten zu erwähnen. Trotz der ganzen Brutalität des Ersten Weltkrieges war damals undenkbar, ein solches Maß an Barbarei zu erreichen.

Auch ist die Verhältnismäßigkeit, wie erwähnt, ein wesentliches Merkmal der Vergeltung, die diesem Grundsatz entspricht, kann daher auch nicht extrem oder übermäßig sein. Der Mord an der Bevölkerung des besetzten Landes kann niemals in einem angemessenen Verhältnis zu irgendetwas stehen. Es ist auch nicht beabsichtigt, das Recht wieder herzustellen. Hinrichtungen sind auch keine wirtschaftliche Maßnahme.

Diejenigen, die uns versichern, dass es keine schriftliche Regel gab, darf ich erinnern, dass seit dem Abkommen über die Behandlung der Kriegsgefangenen von 1929[20] jede Repressalie gegen Kriegsgefangene ausdrücklich verboten war. Nach der schrecklichen Erfahrung des Ersten Weltkriegs wurden diese aus dem internationalen Gewohnheitsrecht stammenden Normen kodifiziert. Ich darf fragen: Wenn schon Maßnahmen gegen Kriegsgefangene verboten waren, muss dies nicht erst recht für Maßnahmen gegen die Zivilbevölkerung?

Es handelt sich hier nicht um die Hinrichtung von Partisanen, wie fälschlicherweise manche andeuten. Nein, die Opfer wurden per Zufall unter der Zivilbevölkerung ausgewählt. Sie waren unbeteiligte Personen. Solche sog. Geiselerschießungen waren absolut rechtswidrig und widersprachen dem Abkommen über die Behandlung der Kriegsgefangenen von 1929 sowie der Haager Landkriegsordnung von 1907: “Keine Strafe in Geld oder anderer Art darf über eine ganze Bevölkerung wegen der Handlungen einzelner verhängt werden, für welche die Bevölkerung nicht als mitverantwortlich angesehen werden kann”[21]. Es liegt an der Hand: Wenn schon keine Strafe in Geld oder anderer Art verhängt werden durfte, durfte man erst recht keine Einzelpersonen töten.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde 1949 das Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten[22] abgeschlossen, dessen Ziel es ist, keinen Zweifel an der Notwendigkeit des bedingungslosen Schutzes der Zivilbevölkerung in einem bewaffneten Konflikt zu lassen. Die Grausamkeit des Krieges kann kein Vorwand sein, um Kriegsverbrecher zu rechtfertigen.

Zusammenfassend denke ich: Heute kann niemand behaupten, dass die Hinrichtungen von Zivilisten während des Zweiten Weltkrieges – sei es durch Soldaten der Wehrmacht, durch die Polizei oder durch die SS – im Einklang mit dem damals geltenden Recht standen. Es besteht kein Zweifel, dass im damaligen Völkerrecht solche barbarischen Gewaltmaßnahmen verboten und deshalb rechtswidrig waren. Die Hinrichtungen der Zivilisten waren keine Repressalien, sondern Racheakte. Barbarei, Wildheit und Unmenschlichkeit sind im Grunde genommen Teil des Zivilisationsbruchs durch die Nationalsozialisten.


[2] Humanitäres Völkerrecht – Auswärtiges Amt

[3] “Aber auch wenn Geiselerschießungen nicht verboten waren, sollten sie nicht gegen das Prinzip der Verhältnismäßigkeit verstoßen. So wurde während des Zweiten Weltkrieges allgemein akzeptiert, dass für einen völkerrechtswidrig getöteten Soldaten zehn Geiseln als Repressalie getötet werden konnten”, aus der Webseite des US-amerikanischen Publizisten Alfred de Zayas, heute im Kuratorium der AfD-nahen Desiderius-Erasmus-Stiftung.

[7] Wie im Fall Herbert Kapller, siehe. Kellerhoff, Geiselerschießungen – ein Freibrief für Morde

[8] Repressalie in Wikipedia

[9] Repressalie in Wikipedia

[10] Repressalie in Wiktionary

[13] “Die Truppe muss sich bewusst sein: 1.) In diesem Kampfe ist Schonung und völkerrechtliche Rücksichtnahme diesen Elementen gegenüber falsch. Sie sind eine Gefahr für die eigene Sicherheit und die schnelle Befriedung der eroberten Gebiete”, Kommissarbefehl

[14] Erlass über die Ausübung der Kriegsgerichtsbarkeit im Gebiet „Barbarossa“ und über besondere Maßnahmen der Truppe in Wikipedia

[21] Art. 50 Haager Landkriegsordnung